Bevor Barbara Geck als Rektorin und Mitwirkende der Werkstatt die konkreten Ergebnisse vorstellte, nahm Hildegard Kurt einen kleinen Rückblick auf den Werkstattprozess (PDF) vor. Wie wurde gearbeitet? Was waren wichtige Etappen und zentrale Erkenntnisse?
Barbara Geck: "Das Einzugsgebiet der Heiligengeistschule liegt in einem Spannungsfeld großer sozialer, kultureller, intellektueller Unterschiede und Ansprüche. Unsere Aufgabe besteht darin, eine gemeinsame Lernkultur für all diese unterschiedlichen Kinder zu schaffen.
Gleichzeitig standen wir in den letzten Jahren vor der Anforderung, den bildungspolitischen Reformstau der letzten dreißig Jahre aufzuarbeiten. So intensiv wir uns auch bemühten, waren wir doch durch mangelnde Bereitstellung von Ressourcen immer wieder in der Umsetzung unserer Konzepte eingeschränkt. Man arbeitet täglich bis zur Erschöpfung, aber die messbaren Ergebnisse scheinen nicht mehr im Verhältnis zu stehen. Solche Phasen haben erhebliche Auswirkungen auf die Berufszufriedenheit.
Wie erfrischend war dann die Arbeit in den Werkstätten. Wir erfuhren eine andere Qualität von Zeit; das Innehalten und den Blick über den Tellerrand. Wir konnten wahrnehmen, wie viel wir in den letzten Jahren bereits geleistet haben, und wie weit wir schon gekommen sind. Die Resonanz auf unsere Arbeit durch die beiden Künstler bedeutete für uns eine besondere Wertschätzung. Als Außenstehende nahmen sie Dinge als wertvoll wahr, die uns mittlerweile selbstverständlich erschienen.
An diesen Wochenenden haben wir viele Stunden intensiv gearbeitet. Dennoch starteten wir am Montagmorgen, körperlich zwar erschöpft, aber mental energiegeladen in die neue Woche und freuten uns auf die Arbeit mit unseren Kindern. Alle Mitwirkenden der Werkstätten haben diese Kraft erlebt und sind voller Motivation und Enthusiasmus.
Die Wertschätzung, die wir in der Werkstatt erfahren haben, versuchen wir verstärkt in das Unterrichtsgeschehen einfließen zu lassen.
In den drei Werkstätten gelang es uns, neue Strukturen zu finden, die die Hauptpersonen, unsere Kinder, wieder in den Mittelpunkt stellen."
ZENTRALE ERGEBNISSE DER WERKSTATT WÄRMEPLASTIK:
Die ruhige Eingangsphase vor Unterrichtsbeginn
Die Kinder betreten ab 7.50 Uhr das Gebäude. Der Unterricht beginnt um 8 Uhr. In der Zwischenzeit entstehen manchmal Konflikte, die den Unterrichtsbeginn belasten. Um dem entgegen zu wirken, sind nun alle Klassenlehrer/innen ab 7.50 Uhr in ihren Klassenräumen. Sie begrüßen die Kinder und haben ein offenes Ohr für sie. Den Kindern stehen Materialien für Freiarbeit zur Verfügung, die einen offenen Anfang begünstigen.
Obwohl sie mehr Arbeitszeit mit sich bringt, entlastet diese ruhige Eingangsphase spürbar - sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte.
Weniger Takt und mehr Rhythmus
Einen großen Teil der Unruhe, Hektik und auch Aggression, die es in einer Schule geben kann, erzeugt der 45 Minuten-Takt. Er bedeutet ständigen Lehrerwechsel, presst das Lernen in ein enges Schema, zerstückelt es blind und mechanisch.
Die Heiligengeistschule hat daher diesen starren Takt durch verschiedene Veränderungen in einen ruhigeren, atmenden Rhythmus überführt:
I. Die Klassenlehrerblöcke zu Beginn des Tages
Anders als früher liegen jetzt die ersten und zweiten Stunden grundsätzlich in der Hand der Klassenlehrer/innen. Dies schafft, zusammen mit der kleinen Eingangsphase, Raum und Zeit für feste, tägliche Rituale und gibt den Kindern Stabilität.
II. Der Fachunterricht im 90 Minuten-Block
Auch in den 3./4. Stunden und in den 5./6. Stunden findet nun der Fachunterricht weitgehend in 90 Minuten-Blöcken statt. So brauchen die Lehrkräfte nicht mehr nach einer Stunde die Klasse zu wechseln, was ständig Unruhe und Zeitdruck erzeugte.
Überdies ist der Stundenplan so gestaltet worden, dass eine Lehrkraft, die z.B. Sachunterricht und Englisch unterrichtet, beide Fächer nacheinander in einer Klasse hat. So kann sie jetzt vier Unterrichtsstunden lang mit den Kindern arbeiten – sie kann etwa im Sachunterricht mal ein gesundes Frühstück durchnehmen und das praktisch werden lassen, was mehr als zwei Stunden dauert. Englisch wird dann beim nächsten Mal aufgeholt. Das lässt viel mehr Zeit, sich in ein Thema zu vertiefen, eine Sache in Ruhe zu Ende zu bringen. Kinder und Erwachsene können entspannter arbeiten.
Eine Lehrerin: „Wir erleben, wie die Kinder sich ganz anders versenken und dann der so genannte `flow´ entsteht, sie die Zeit nicht mehr spüren. Sie lernen, sich intensiver auf ein Thema einzulassen, wobei sie erfahren und die Sicherheit haben, es dauert dann eben auch. Während sie sonst die Erfahrung hatten, nach 45 Minuten ist sowieso schon wieder Schluss – was ja im Grunde ähnlich ist wie mit der Fernbedienung: Schon wieder schaltet man um.“
III. Integration der Kinder aus den Förderklassen
In besonderen Fällen nahmen Kinder aus den Förderklassen mit Schwerpunkt Sprache schon während des ersten Schuljahres am Matheunterricht einer Grundschulklasse teil. Dadurch blieb wenig Spielraum für den flexiblen Anfangsunterricht, und die Kinder konnten kaum in ihren Klassen ungestört zusammenwachsen.
Daher beginnt die Integration der Kinder aus den Förderklassen mit Schwerpunkt Sprache in den Mathematikunterricht einer Grundschulklasse nun frühestens mit der zweiten Klasse.
IV. Es klingelt weniger
Wo es anstatt starren Takts einen ruhigen, fließenden Rhythmus geben soll, stört natürlich die Klingel. Sie ertönt jetzt nur noch vier Mal am Tag: um 7.50 Uhr, zu Beginn des Schultages, jeweils zum Ende der beiden großen Pausen und um 13.20 Uhr, zum Ende des Schultages.
Der Klassenrat und der Schülerrat
In der Werkstatt Wärmeplastik zeigte sich immer wieder, wie ähnlich viele Bedürfnisse der Kinder und der Erwachsenen im Lebensraum Schule sind. Etwa das Bedürfnis nach einem ruhigen Umfeld, das Raum lässt für vertiefte, offene Lernprozesse.
Ein weiteres solches Bedürfnis ist das nach gelebter Gemeinschaft. Auch die Kinder wollen in ihrer Klasse, in der Schule Wertschätzung erfahren, mitbestimmen und mit gestalten.
Daher gibt es an der Heiligengeistschule nun einen Klassenrat und einen Schülerrat.
Der Klassenrat findet in jeder Klasse ein Mal wöchentlich statt. Er hilft Konflikte „aufzuräumen“ und damit Disziplinproblemen vorzubeugen; Selbstwertgefühl zu entwickeln; bessere Beziehungen aufzubauen; andere Sichtweisen akzeptieren zu lernen; Wertvorstellungen für das ganze Leben zu entwickeln und zu erleben, wie wertvoll Struktur und Gesprächskultur für eine Gruppe sind.
Der Schülerrat
Die Anliegen aus dem Klassenrat werden von den Klassensprecher/innen in ein „goldenes Buch“ geschrieben und in den Schülerrat eingebracht. Thema im Schülerrat ist gegenwärtig der Dauerstreitpunkt Fußball auf dem Schulhof. Wer darf wo, wann, mit wem? Hierfür versucht der Schülerrat nun selbst Lösungen zu finden.
Sowohl der Klassenrat als auch der Schülerrat werden von den Kindern sehr gut angenommen. Sie sind interessiert und engagiert, in den Sitzungen gibt es keine Disziplinprobleme. Ihr „goldenes Buch“ tragen sie gewissenhaft bei sich und nutzen es. Es ist, als hätten sie auf die Gelegenheit gewartet, mehr miteinander ins Gespräch zu kommen und mitwirken zu können daran, dass die Schule schön ist.
Auf dem Weg zum Schülerparlament
In einem nächsten Schritt soll aus dem Schülerrat ein Schülerparlament entstehen: ein Forum, in dem alle Kinder der Schule sich als eine Gemeinschaft erleben, wo wo Transparenz geschaffen wird und die Möglichkeit besteht, Konflikte als Schule gemeinsam zu besprechen und zu lösen - kurz, wo Sinn für Gemeinschaft gepflegt und Demokratie eingeübt wird.
Verbesserte Raumatmosphäre in den Klassenräumen
Im Anschluss an die dritte Werkstatt begutachteten mehrere Lehrkräfte gemeinsam mit George Steinmann und Kolleg/innen ihre jeweiligen Klassenräume im Blick auf die Frage: Wie wirkt mein Klassenraum auf andere? Wie kann ich mit einfachen Mitteln Veränderungen schaffen, die spürbar sind? Die meine Wertschätzung für die Kinder und unser gemeinsames Arbeiten zum Ausdruck bringen?
Denn jeder Klassenraum ist ein Mikrokosmos. Für die ersten Jahre der Schulzeit ist er ein Lebensraum der Kinder. Sie sollen sich in ihrem Klassenraum wohl fühlen. Zugleich solll der Raum ihnen auch eine gute Lernatmosphäre, Struktur und Halt bieten.
Es wurde viel aufgeräumt, entrümpelt, gewerkelt, geputzt und gestrichen.
Verstärkte Unterstützung durch Eltern
Ob als Lesemütter, mit Computerkursen am Samstag für Kinder, oder indem sie die seit etlichen Jahren (!) nicht mehr gereinigten Fenster putzen: Einige Eltern bieten seit der Werkstatt Wärmeplastik verstärkt ihre Unterstützung an. Der Förderverein und der Schulelternrat organisieren derzeit Themennachmittage für Kinder, die Eltern ein oder zweimal im Monat oder zu passenden Jahreszeiten anbieten.
Eine Mutter, Mitwirkende in der Werkstatt Wärmeplastik und selbst Lehrerin, hat nun die folgende Initiative in den Schulelternrat eingebracht: Zum kommenden Herbst wollen Eltern für Schüler nachmittags ein Kunstprojekt anbieten, das sich mit verschiedenen Kunsttechniken dem Thema "Lüneburger Stadtansichten" widmet. Man ist mit den Geschäftsleuten der Heiligengeiststraße im Gespräch mit dem Ziel, aus ausgewählten Schülerarbeiten, die von Eltern betreut und angeleitet werden, einen Jahreskalender für 2011 zu drucken, den die Lüneburger Geschäftsleute finanzieren.
Perspektiven
Barbara Geck, Rektorin: "Die Veränderungen müssen sich erst einmal etablieren. Perspektivisch liegt mir dann sehr am Herzen, dass wir unseren Sinn für gelebte Gemeinschaft noch mehr entfalten. Konkret heißt das: noch mehr Verbindlichkeit bei Absprachen, noch mehr Verlässlichkeit, noch mehr Zusammenarbeit. Es mag erscheinen, als habe das nach außen keine große Wirkung, aber dem ist nicht so."
Tanja Staats, Konrektorin: "Wie lassen sich all diese strukturellen Veränderungen pädagogisch noch sinnvoller nutzen? Wie verändert sich dadurch wirklich der Unterricht? Wo sind vielleicht auch Kooperationen von Klassen möglich und sinnvoll? Die neuen Möglichkeiten voll zu erschließen, die Schulkultur weiter zu verfeinern und zu vertiefen, darauf kommt es jetzt an."
Auch das ist wieder ein Prozess, der Ruhe, Raum, Zeit und Unterstützung braucht.
"Wir haben jetzt durch die Werkstatt auch mehr Selbstvertrauen als Schule. Wir sehen: Wir machen viel. Und wir wollen uns auf das, was wir tun, konzentrieren, es noch schöner, genauer machen, mit mehr Ruhe und Muße. Wirklich dieses innere Wachsen. Nicht mehr Menge, sondern einfach noch mehr Qualität." Lehrerin
"Gewöhnlich werden in der Schule von außen Ziele und Vorgaben an die Kinder, aber auch an die Lehrkräfte heran getragen, die es dann zu erfüllen gilt. Wir haben genau umgekehrt gearbeitet. Alle Ergebnisse erwuchsen aus dem, was wir selbst im Werkstattprozess als wichtig identifizierten." Hildegard Kurt
"Für meine kommende erste Klasse habe ich mir vorgenommen, sie morgens per Handschlag einzeln zu begrüßen; so dass sich jedes Kind wirklich wahrgenommen und willkommen fühlt. Auch das ist ja nichts anderes als Wertschätzung: Ich sehe dich, du bist da." Lehrerin
Kulturtechniken entwickeln, die gutes Wachstum fördern und die Kultur der Schule stärken.
Klassenrat in einer dritten Klasse: gemeinsam Aufgaben und Konflikte bewältigen, erleben, wie wertvoll Struktur und Gesprächskultur in der Gruppe sind, auch Privates einbringen dürfen.
Klassensprecher/innen im Schülerrat mit ihren "goldenen Büchern".
Klassenrat in einer ersten Klasse: sich angenommen fühlen, Wertschätzung für sich selbst, die Klasse und die Schule üben. In der Mitte das "goldene Buch".
Skizze zum Schülerparlament an der Heiligengeistschule
"Wir verstehen uns als Schule, die ein Bewusstsein für vorhandene Stärken schafft." Aus dem Leitbild der Heiligengeistschule, veröffentlicht kurz nach der ersten Werkstatt.